Neue Soziale Bewegungen
Als Neue Soziale Bewegungen werden Bewegungen bezeichnet, die ausserhalb der bestehenden parlamentarischen Strukturen die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellen und alternative Ansätze des Zusammenlebens entwerfen. Sie haben ihren Ursprung in der 68er-Bewegung: Junge Menschen protestierten gegen die Generation ihrer Eltern, gegen starre gesellschaftliche Strukturen und Konflikte des Kalten Kriegs wie den Vietnamkrieg. In der Schweiz nahm die 68er-Bewegung ihren Anfang mit den «Globus-Krawallen» im Juni 1968 in Zürich: Jugendliche besetzten das Globus-Provisorium und forderten dessen Umnutzung als autonomes Jugendzentrum.
Von Lausanne nach Genf für den Frieden
Ein weiterer Bezugsrahmen für die Neuen Sozialen Bewegungen sind die Friedensbewegungen. Diese waren bereits vor 1968 aktiv, beispielsweise mit dem ersten Ostermarsch von Atomwaffengegner*innen von Lausanne nach Genf 1963, organisiert von der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung. Über den Widerstand gegen Atomwaffen hinaus setzte sich die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) für Antimilitarismus ein und unterstützte Militärdienstverweigerer. In St. Gallen entstand in den 1990er-Jahren eine Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer (ab 1996: Beratungsstelle für Zivildienst und Militärdienstverweigerung).
Ein Ort für friedenspolitische Debatten in der Ostschweiz war das Tagungszentrum Schloss Wartensee des Vereins Ostschweizerische Evangelische Heimstätte. Als Ergänzung dazu wurden an der jährlich stattfindenden Friedenswoche St. Gallen aktuelle Themen in Bezug auf Frieden diskutiert. Aufgrund der Grenzlage zwischen den drei Ländern Schweiz, Deutschland und Österreich griff eine länderübergreifende Gruppe Anfang der 1980er-Jahre die Tradition der Ostermärsche gegen Atomwaffen in der Bodenseeregion wieder auf.
Neue Soziale Bewegungen decken unterschiedliche Themen und Positionen ab. So entstand im Zuge der 68er-Bewegung und den Stonewall-Unruhen 1969 in New York eine neue Schwulenbewegung: In St. Gallen 1973 mit der Gründung der Homosexuellen Arbeitsgruppe St. Gallen. Die Anti-AKW-Bewegung setzte sich zusätzlich zum Widerstand gegen Atomwaffen auch gegen die zivile Verwendung von Kernenergie ein. In der Ostschweiz waren der Verein «AKW Rüthi Nein» und der Verein «AKW-GegnerInnen St. Gallen» aktiv.
Engagement für autonome Räume
1980 kam es erneut zu Jugendunruhen. Eine neue Generation ging auf die Strassen für ähnliche Ziele wie 1968. Sie forderte auch in St. Gallen autonome Räume: Nachdem 1981 das Restaurant Posthalle, ein Treffpunkt der linken Szene, abgerissen worden war, setzte sich der Trägerverein «Autonomes Jugendzentrum» für einen neuen Ort ein. Im März zog die Bewegung in die alte Schreinerei an der Gartenstrasse ein; bereits Ende Sommer brach die Polizei diese jedoch wieder ab. Durch die Suche nach einem neuen Ort entstand schliesslich die Grabenhalle. Als Ort für alternative Kultur war sie Teil einer Gegenkultur zum etablierten bürgerlichen Kulturbetrieb. Die in diesem Umfeld entstandene, jedoch eigenständig bestehende Grabenzeitung (GraZ) diskutierte politische Themen. Als Nachfolge für die Genossenschaftsbeiz Posthalle entstand der Bündnerhof im Bleicheli-Quartier, ab 1986 der Schwarze Engel.
Seit den 1970er-Jahren herrschte in St. Gallen Wohnungsnot, die durch Spekulation mit Altbauten verschlimmert wurde. Mit Hausbesetzungen protestierten Aktivist*innen dagegen, beispielsweise mit der Besetzung des Hotels Hecht am Marktplatz zwischen Weihnachten und Neujahr 1988. Die Polizei räumte diese bereits nach fünf Tagen wieder. In der Folge reichten Parlamentarier*innen zahlreiche Interpellationen in der Sozialpolitik ein. Verbesserungen geschahen vor allem in der Drogenpolitik, für die die Hecht-Besetzung das Problembewusstsein gestärkt hatte. Nach einem ersten prekären Treffpunkt für Drogenabhängige im «Bienenhüsli» folgte schliesslich eine staatliche Heroinabgabe. Preisgünstiger Wohnraum blieb weiterhin schwierig zu finden.
Solidaritätsbewegungen
In den 1980er-Jahren entstand auch in St. Gallen, wie in anderen Städten rund um die Welt, eine aktive Anti-Apartheid-Bewegung. Ausserdem bildete sich 1986 ein Asylkomitee, das sich gegen die zunehmend repressive Asyl- und Migrationspolitik der Schweiz und die steigende Gewalt gegen Asylsuchende engagierte. 1993 entstand mit dem Verein Café-Bibliothek (CaBi) ein Antirassismus-Treffpunkt in St. Gallen.
Als Reaktion auf die Jugoslawien-Kriege bildete sich die Bewegung Gemeinden Gemeinsam Schweiz. Das von Arne Engeli gegründete Regionalkomitee Bodensee-Rhein arbeitete bis 2013 mit der Partnerstadt Sombor in der Vojvodina/Serbien zusammen, das Regionalkomitee Appenzell AR mit der Partnerstadt Zupanja/Kroatien.
Überwachung
Linkes Engagement wurde im Kontext des Kalten Krieges von staatlicher Seite überwacht: Staatsschützer*innen führten ab Ende der 1960er-Jahre sogenannte Fichen. Darin wurden die Aktivitäten von Personen aus dem linken, pazifistischen und ökologischen Spektrum sowie von Migrant*innen erfasst.
Bibliografie:
- Hebeisen, Erika/Joris, Elisabeth/Zimmermann, Angela (Hg.): Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, Baden 2008.
- Historischer Verein des Kantons St. Gallen (Hg.): Aufbruch – Neue Soziale Bewegungen in der Ostschweiz, 156. Neujahrsblatt, St. Gallen 2016.
- Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hg.): Eine Geschichte der St. Galler Gegenwart – Sozialhistorische Einblicke ins 19. und 20. Jahrhundert, St. Gallen 2019.
- Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 21. Jahrhundert, München 2015.
Biografien
Wolfgang Steiger
1953 in Flawil geboren, absolvierte Wolfgang Steiger eine Lehre als Steinbildhauer und besuchte die Kunstgewerbeschule St. Gallen. Er arbeitete als Steinmetz auf Baustellen, als Hilfsarbeiter in einer Lithografiedruckerei und machte Kunstarbeiten in seiner Werkstatt. Seit den 1980er-Jahren war er als selbständiger Landwirt und Künstler tätig. Nach einer Ausbildung an der Medienschule St. Gallen 2001 war er zusätzlich journalistisch tätig und arbeitete bei verschiedenen Ausstellungsprojekten mit. Die 80er-Bewegung erlebte er in St. Gallen mit und war unter anderem beim Entstehen der Grabenhalle beteiligt. Mit seinem Bauernhof im Appenzellerland war er Teil der alternativen linken Szene. Ausserdem war er bei der Grabenzeitung und der Kleinplakatszene aktiv beteiligt.
Arne Engeli
1936 im Thurgau geboren, absolvierte Arne Engeli die Ausbildung am Lehrerseminar Kreuzlingen und studierte ein halbes Jahr auf einer dänischen Volkshochschule. An der Universität Zürich und der Reformuniversität Konstanz studierte er Geschichte, Politik, Soziologie, Literatur und Sozialethik. In Frauenfeld engagierte er sich in Kirche und Politik und übernahm das Präsidium der SP-Sektion. Wie schon seine Eltern war Arne Engeli Mitglied im sozialreligiösen Escherbund und nahm an den Pfingsttreffen auf dem Herzberg teil. 1964 gründete er mit Fritz Wartenweiler und weiteren Persönlichkeiten die Schweizer Jugendakademie, die sechswöchige Kurse für junge Erwachsene anbot. Für zwanzig Jahre leitete er die Evangelische Heimstätte Schloss Wartensee. Fünf Jahre lang präsidierte Arne Engeli den Schweizerischen Friedensrat. Er baute das Regionalkomitee Bodensee-Rhein der Aktion «Gemeinden Gemeinsam Schweiz» auf. Ab 1993 übernahm er die Stelle als Programmbeauftragter des Hilfswerks der evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) für das ehemalige Jugoslawien.
Ruedi Tobler
Ruedi Tobler wurde 1947 in Zürich-Altstetten geboren, seit 1986 wohnte er mit seiner Familie im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Nach seiner Schulzeit und KV-Lehre war er Sekretär der Waffenausfuhrverbots-Initiative und des Schweizerischen Friedensrates, später des VPOD Sektion Zürich und der Anti-Apartheid-Bewegung. Er besuchte die Abendschule für Sozialarbeit in Zürich und engagierte sich bei der SP. Mit dem 1. Ostermarsch der Atomwaffengegner*innen in der Schweiz begann Toblers Engagement in dieser Bewegung. Er war im Schweizer Zweig der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) aktiv und wurde mehrfach wegen Militärdienstverweigerung verurteilt. In den 1990er-Jahren war er Vorstandsmitglied der Beratungsstelle für Militärverweigerer. Er war im Schweizerischen Friedensrat aktiv und über dreissig Jahre dessen Präsident. In der Ostschweiz war er am Aufbau der «Friedens-Stationen» auf einem Weg von Heiden nach Walzenhausen beteiligt.
René Hornung
René Hornung wurde 1948 geboren und wuchs in Kreuzlingen auf. In Trogen besuchte er die Kantonsschule. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und arbeitete anschliessend als Journalist.
Seit 1973 engagierte er sich in der Schwulenbewegung. Im Zuge der 68er-Bewegung gründete er gemeinsam mit anderen Studenten eine Schwulengruppe an der HSG, die Homosexuelle Arbeitsgruppe St. Gallen (HASG). Die HASG bildete Arbeitsgruppen zu Selbsterfahrung, Öffentlichkeitsarbeit und Kultur und vernetzte sich mit den Gruppen anderer Städte. Sie engagierte sich politisch und bot mit Partys einen Rahmen, sich zu vernetzen und ein Coming-out zu erleichtern. Seit 1999 ist Hornung Vorstandsmitglied des Schwulenarchivs. Er verfasste zusammen mit Philipp Hofstetter das Buch „Der Urning. Selbstbewusst schwul vor 1900“.