oral history


Neue Frauenbewegung

Die Neue Frauenbewegung entstand ebenfalls im Zuge der 68er-Bewegung. Sie war Teil einer internationalen Entwicklung und begann in der Schweiz mit dem Zusammenschluss von Frauen zur Frauenbefreiungsbewegung (FBB). In den 1970er-Jahren grenzte sich die FBB immer stärker von der Neuen Linken ab, da auch in diesen Gruppierungen oft noch eine traditionelle Arbeits- und Rollenverteilung herrschte. Mit dem Slogan «Das Private ist Politisch» kritisierten die Frauen patriarchale Strukturen in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen, aber auch in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.

Eigene Frauenräume
Neben der öffentlichen Kritik baute die Neue Frauenbewegung eigene Gruppen und Institutionen auf. Eine davon war die Informationsstelle für Frauen (INFRA), wo Frauen andere Frauen auf Augenhöhe zu den Themen Verhütung, Abtreibung, Beziehungen, Scheidung oder Berufswahl berieten. Die 1974 gegründete Frauengruppe St. Gallen richtete 1979 eine solche selbstorganisierte Beratungsstelle ein.

Ausserdem bildeten sich Untergruppen zu verschiedenen Problemfeldern: Selbsterfahrungsgruppen, eine Frauenbeizgruppe und homosexuelle Frauengruppe, eine Gruppe zum Thema Gewalt gegen Frauen, ein Selbstverteidigungskurs (AIKIDO) sowie eine Gruppe zu Erfahrungen von Frauen mit Frauenärzten. Aus der Arbeitsgruppe «Gewalt gegen Frauen» entstand 1980 der Verein zum Schutz misshandelter Frauen, der eine Wohnung in der Stadt als Frauenhaus einrichtete. Es entstand eine feministische Gegenkultur mit Frauenbuchhandlungen, Frauenbibliotheken (z.B. die Frauenbibliothek Wyborada in St. Gallen), Frauenbeizen, Frauenfilmtagen, Frauenmusik, Frauenfesten, Frauenzentren und ähnlichem.

Unabhängig von Gynäkologen und Ärzten
Eine zentrale Forderung der Neuen Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren war die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, was 2002 nach jahrzehntelangen Kämpfen mit der Fristenlösung erreicht wurde. Der Kampf um die Selbstbestimmung über den eigenen Körper bezog sich auch auf selbstbestimmte Sexualität und eine von männlichen Gynäkologen unabhängige Gesundheitsversorgung.

1988 wurde die Interessengemeinschaft für natürliche Geburten in St. Gallen gegründet, um Frauen Möglichkeiten zu bieten, unabhängig von Spitälern und Ärzten zu gebären. 1994 eröffnete das Geburtshaus mit Hebammenpraxis Artemis in Steinach. Der Verein Nabelschnur in Heiden wurde 1988 als Anlauf- und Koordinationsstelle im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Elternarbeit gegründet.

Gleichstellung und Institutionalisierung
Neben der FBB war ab 1980 die Politische Frauengruppe (PFG) mit einer neuen Generation von Frauen ein wichtiger feministischer Referenzpunkt in St. Gallen. Sie war der Organisation für die Sache der Frau (OFRA) angegliedert. Während die Frauengruppe St. Gallen ausserparlamentarisch agierte, politisierte die PFG innerhalb der bestehenden Strukturen, um Parlament und Öffentlichkeit für die Diskriminierung von Frauen zu sensibilisieren. Sie betrieb aber nicht nur parlamentarische Arbeit, sondern auch gesellschaftspolitische Arbeit mit Demonstrationen, Veranstaltungen sowie themenspezifischen Gruppen.

1988 wurde das eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau eröffnet, darauf folgten Gleichstellungsbüros in den Kantonen: 1989 im Kanton St. Gallen, 1998 im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Dieses entstand durch eine Initiative im Zuge des Frauenstreiks 1991. In Appenzell Innerrhoden gibt es kein kantonales Gleichstellungsbüro.

Ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre fand in vielen Frauenprojekten und -organisationen ein Wandel von selbstverwalteten, ehrenamtlich funktionierenden zu professionellen Strukturen mit öffentlicher Finanzierung statt.

Bibliografie

  • Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (Hg.): Frauensache. Das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, Baden 2010.
  • Eidg. Kommission für Frauenfragen EKF (Hg.): Frauen Macht Geschichte. Zur Geschichte der Gleichstellung in der Schweiz 1948 – 2000, Bern 2001.
  • Hebeisen, Erika/Joris, Elisabeth/Zimmermann, Angela (Hg.): Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, Baden 2008.
  • Historischer Verein des Kantons St. Gallen (Hg.): Neue Frauenbewegung, 145. Neujahrblatt, St. Gallen 2005.
  • Joris, Elisabeth/Witzig, Heidi (Hg.): Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz, Zürich 2016.
  • Lenzin, Danièle: Die Sache der Frauen. OFRA und die Frauenbewegung in der Schweiz, Zürich 2000.

Biografien

Regina Kühne
Regina Kühne wurde 1949 in St. Gallen geboren. Sie schloss eine Ausbildung als chemisch-pharmazeutische Laborantin ab, arbeitete anschliessend aber als Fotografin. Sie war beim Pressebüro Künzler tätig, 1989 übernahm sie das Büro und wurde selbständig. Ausserdem fotografierte sie auf Mandatsbasis, unter anderem für keystone-press.

Mit der Neuen Frauenbewegung kam sie Anfang der 1970er-Jahre in Kontakt. Sie engagierte sich bei der FBB und der INFRA. Sie wirkte bei den Beratungen am Mittwochabend in der Frauenwohnung an der Löwengasse mit, engagierte sich für die Fristenlösung und organisierte den Selbstverteidigungskurs für Frauen mit. Einige Veranstaltungen und Demonstrationen begleitete sie als Fotografin.

Cécile Federer
Cécile Federer wurde 1941 in Rorschach geboren, arbeitete als Sekretärin und absolvierte eine Ausbildung in soziokultureller Animation in Zürich. Anschliessend arbeitete sie als Beraterin in der kantonalen Drogenberatung. Über Kontakte in der Frauenbewegung begann sie, sich fürs Frauenhaus St. Gallen zu engagieren: Zunächst als Freiwillige im Nachtdienst und in der Administrationsgruppe, schliesslich als Stiftungsrätin und Stiftungsratspräsidentin.

Von 1992 bis 2004 war sie Kantonsrätin für die Grünen, am Schluss als Fraktionspräsidentin. Sie arbeitete als Leiterin der Beratungsstelle für Familienplanung und Schwangerschaft (FaPla), danach im Ressort Öffentlichkeitsarbeit und Ausbildung der Telefonseelsorge. Ausserdem war sie als Suizidfachperson tätig, arbeitete bei der Anlaufstelle für vergewaltigte Frauen im Kantonsspital, engagierte sich bei den Klimaseniorinnen und im Hospizdienst.

Judith Schläpfer
Judith Schläpfer wurde 1948 in Rheineck geboren und absolvierte die Töchterhandelsschule in Chur. In Frankreich arbeitete sie als Au-Pair und Übersetzerin und kam mit der 68er-Bewegung in Kontakt. Sie absolvierte die Schule für Soziale Arbeit in St. Gallen. In Bern initiierte sie während der Schwangerschaft eine Frauengruppe, wo die Frauen gemeinsam Erfahrungen austauschen konnten. Sie arbeitete beim Sozialdienst und als Sozialarbeiterin beim Uni-Pfarramt.

Nach ihrer Rückkehr in die Ostschweiz arbeitete Judith Schläpfer als Religionslehrerin in Appenzell Innerrhoden. Im Zuge des Frauenstreiks 1991 gründete sie mit Mitstreiterinnen das Initiativkomitee für eine Gleichstellungsstelle in Appenzell Ausserrhoden. Sie übernahm das Präsidium der Kommission und gleiste die Gleichstellungsstelle auf. Parallel kam sie mit der Dokumentationsstelle für Frauengeschichte in Kontakt und realisierte zusammen mit Renate Bräuniger die Publikation «FrauenLeben Appenzell». Nach ihrem Rücktritt aus der Gleichstellungsstelle arbeitete sie in der Kommission für Gleichstellung an der HSG. Nach der Pensionierung absolvierte sie eine Maltherapie-Ausbildung und eröffnete zusammen mit einer anderen Frau das Atelier «Solitaire».